Führungen durch die Ausstellung jeden Sonntag um 17 Uhr / Guided Tours each sunday at 5 p.m. (15.01., 22.01., 29.01.) von / by Kerstin Godschalk
Under (continuing) Construction – Essay als pdf
“Under (continuing) Construction” Ein Zustandsbericht
Zur Imagination als Kraft der körperlichen Präsenz in Zeiten der Digitalisierung
Massenmediale Phänomene beschäftigen die Kunst seit den 90er Jahren. Heute ist die
technisch-mediale Transformation und gesellschaftliche Digitalisierung soweit fortgeschritten, dass Dr. Peter Funken in seinem Text zur Ausstellung “Under Construction” von einem “2. Maschinenzeitalter” schreibt, in der “der Mensch seine Rolle erst finden muss”. Die Ausstellung “Under Construction” ist ein Zustandsbericht. Ausgehend von den persönlichen Kontakten und Interessen der Künstlerkuratoren Römer + Römer und Ko-Kurator Erik Andersen treten 25 internationale Künstlerpositionen in einen Dialog und, so hoffen es die Künstler-Kuratoren, spätestens zur Eröffnung auch die Künstler in Person: social media extended. Die Künstler-Kuratoren holen uns zurück in die ästhetische und damit sinnlich und körperlich erfahrbare Wirklichkeit. Sie setzen in “Under Construction” der glänzenden und reibungslosen Oberfläche die Wirklichkeitserfahrung materieller Beschaffenheit von Größe, Raum und Zeit entgegen.
So trifft man in der Ausstellung weniger auf Medienkunst als auf Medialisierungsprozesse, die die neuen Medien technisch dafür nutzen, Blickwinkel und Auswahlprozesse bewusst zu machen und zu hinterfragen: Viktoria Binschtok kreuzt den unergründlichen Algorithmus der google-Bildersuche mit ihrem persönlichen Geschmack, rekonstruiert die ausgewählten Bilder und stellt so ästhetische Bildzusammenhänge her; Peter Weibel hingegen macht sich die digitalen Prozesse des Morphings zu eigen, um über verschiedene kunsthistorische Epochen hinweg den männlichen Blick auf die Weiblichkeit in seiner “Venus im Pelz” von 2013 zu manifestieren; und Römer + Römer entwickeln den sich aufdrängenden Pointillismus in ihren Bildern weiter, so dass die Details zu Gunsten einer emotionalen Vertiefung in den Moment zurücktreten.
Um Realitätswahrnehmung und -verarbeitung geht es auch in Christopher Winters installativen Malerei Arrangements. Der kubistischen Idee verhaftet, hinterfragt er unsere Wahrnehmung von Realität über abstrakte Ordnungssysteme und Bildraumerweiterungen, die das Spekulative in der Ausformung von Wirklichkeit und alternative Realitäten anklingen lassen. Marcel van Eeden hingegen zeigt Zeichnungen, die auf Fotografien basieren, die vor seiner Geburt entstanden, und hinterfragt so unseren persönlichen Bezug zur Geschichte und der existenziellen Gewalt von Narrativen. Alexandra Ranner erschafft über Medialisierungsprozesse aus Skulpturen Fotografien verfallener Neubauten, die sich fast schon romantisch dem innersten Empfinden des Verlassenseins hingeben und typologisch zum Zeichen der Unachtsamkeit der heutigen Zeit stehen. Zur Eröffnung werden Yaneq und Mischa Tangian darüber hinaus eine musikalische Lesung des Textes “bau mal” geben, die das mittlerweile fast schon absurde Bauen in Großstädten in seinen soziopolitischen und ästhetischen Kontext stellt.
Das Intime des Interieurs und der suchende Blick nach außen ist auch in Sophie Calles Arbeit angelegt und findet sich in Minor Alexanders fotografischer Serie mit verlassenen Hotelzimmern wieder, die zur Imagination einer menschlichen Präsenz verleiten. Nezaket Ekici annektiert kurzer Hand die Baggerschaufel, die ihr die Sicht aus dem Atelier versperrte, und GODsDOGs verdichten ihre Performance in einer Fotografie zum Relikt, das die materielle Beschaffenheit des Bühnenbildes bzw. -raumes in seiner Rahmung weiterhin bereithält.
Erik Andersen und Emmanuel Bornstein grenzen ihre Arbeiten darüber hinaus thematisch von der überzeichnet glatten und reibungslosen Oberfläche ab, indem sie den täglich zirkulierenden Bildern der sozialen Medien eine andere Realität entgegenstellen. Erik Andersen erschafft sein “Selbstportrait” in Form einer überlebensgroßen Atemschutzmaske und Emmanuel Bornstein malt in seiner Serie “Another Heavenly Day” kleinformatige Portraits, die sich in fast konturlosen Farbflächen auflösen.
Man begegnet in der Ausstellung “Under Construction” demnach weniger der glatten industrialisierten Oberfläche als handwerklicher Versiertheit und malerischem Duktus. Claudia Wieser erweitert den Bildraum meist über kraftvoll in situ eingesetzter Fototapete und in Handarbeit glänzend lackierten Fliesen, die wie abstrakte Malerei anmuten, und hinterfragt so nicht nur den Status der Gattungen der Bildenden Kunst, sondern sogar gattungsübergreifend den von Objekt und Design zu Installation und Skulptur. Emanuel Bernstone in seinen “Statistical Mechanics” hingegen widmet seine Kunst dem malerisch durchkomponierten Verlauf. Anstelle von Leinwand tritt eine semitransparente Folie, die Durchblicke suggeriert und zu Einblicken in die Schichtungen des Farbauftrags einlädt.
Um materielle Ausdehnung geht es auch in Michael Sailstorfers überdimensionierter Popcornmaschine, die über Heißluftpistolen am Fließband Maiskörner um 43-47fach vergrößert als Popcorn in den Raum schießt. In der installativen Versuchsanordnung manifestiert sich die Macht der Natur vor allem über die Maschine und dehnt sich geräuschvoll und geruchsintensiv in den Raum aus. Philipp Fürhofer stellt die berechtigte Frage nach unserer “On-Off-Relation”. Anna Jermolaewa zeichnet das Dasein in einem heutigen Russland nach, das dem kapitalistischen Spiel von Verheißung und Scheitern anheimgefallen ist. Ebenso Alex Flemming greift dieses Spiel auf. Er stilisiert unterschiedliche Produkte unserer Zeit zu Ikonen der heiligen Familie und macht so ihren Einfluss auf unsere Selbstwahrnehmung und unser Körperempfinden deutlich. Verfassungen von Natur und Kultur verfolgt auch Miriam Lenk, deren Figuren und Gebilde sich gepresst zwischen Boden und Decke des Schau Fensters winden. Angelika Arendts Miniatur hingegen lässt Formen zu Formen werden. Die unter der Modelliermasse verborgene Porzellanskulptur bleibt zu enträtseln.
Schließlich wird deutlich, dass man auf den 25 mal vier Metern des Schau Fensters weder spurlosen Artefakten noch rationalen Ordnungen begegnet, sondern auf Zustände und Verfassungen von Mensch und Materie blickt. So Thomas Rentmeisters ausrangiertes Autobahnschild “BSG”, das nicht nur inhaltlich, sondern auch formell deutlich Spuren der Abnutzung und Transformation aufweist, die im Zusammenhang mit David Zink Yis Fotografien Rückschlüsse auf kulturell verschiedene Reparaturvorgänge zulassen und mit malerischen Qualitäten anmuten. Karsten Konrad zersägt und rekonstruiert glänzendes Chrom und Stahl von Alltagsgegenständen, sich in ihm spiegelnd schlägt man in seine “High Five” ein. Auch Vadim Zakharov und Barthélémy Toguo hinterfragen die dem Menschen gegenüberstehenden Zeitrechnung und Klassifizierungssysteme. Vadim Zakharov eröffnet uns einen intimen Einblick auf ein Papiermodellboot, das eine ganz eigene Zeitrechnung zu offenbaren scheint. Mit “Torture Body” lädt Barthélémy Toguo gemeinsam mit Michèle Ndjongui während des Eröffnungsabends zur Teilhabe an einer live Performance ein.
Man ist eingeladen genauer hinzuschauen und dennoch bleibt vieles im Verborgenen. Der Titel der Ausstellung “Under Construction” setzt sich programmatisch im/n der Betrachter/in fort, der/die mit Verlaufsprozessen konfrontiert ist und respektive seiner/ ihrer Vorstellungskraft assoziative Beziehungsgeflechte zwischen den Werken ausbauen kann. Auf dem Weg der durch Sensibilität erfassbaren Wirklichkeit dient Imagination dazu, sich als Individuum in ein neues Verhältnis zur Welt zu stellen. Neben der bloßen sinnlichen Wahrnehmung entsteht so eine körperliche Präsenz. Unsere Vorstellungskraft bringt Bilder hervor, mit denen wir die Realität mit anderen Mitteln fortführen und in Bezug auf uns konstruieren. Sie ermöglicht so gleichzeitig eine kritische Realitätsprüfung des hohen Abstraktionsgrades unserer Ordnungssysteme, und eine Neupositionierung und Verhandlung derselben.
Kerstin Godschalk
B.A. Kulturwissenschaftlerin, Europauniversität Viadrina Frankfurt (Oder), derzeit M.A. Studium der Kunstgeschichte im globalen Kontext, Freie Universität Berlin
Aus einer interdisziplinären Perspektive nähert sich Kerstin Godschalk der modernen bis zeitgenössischen Kunst mit der Frage nach ihrer Wechselwirkung mit und Eingebundenheit in soziokulturelle Aushandlungsprozesse und dem transformativen Potential von künstlerischen Strategien.